Gerd brauchte die Rekordzeit von 12 Stunden um von Hamburg nach Marstal zu kommen. In der Nähe von Sonderborg brach sein Auto zusammen - eine alte Scheese, ein Fiat glaube ich, der vor 30 Jahren italienische Vorstände kutschiert hatte und nun keine Lust mehr hatte, nur noch einen Kilometer weit zu fahren.
“Ich bin dann weiter getrampt”, erzählte mir Gerd, als wir uns nach einer langen Umarmung wieder losließen. “Das geht in Dänemark ganz gut, so wie auf der ganzen Welt - nur in Deutschland, da denken sie immer, dass sie den Tod einsteigen lassen, einen Serienmörder, der an der Landstrasse frierend nur darauf wartet, sie zu meucheln”, ergänzte er grinsend und erzählte von seinem langen Weg zu mir.
“Die Elektrofähre ist der Hammer, ständig denkst du daran, ob die Duracell Batterien wirklich ausreichen, dieses Ungetüm durch die Wellen des kleinen Belt zu drücken”, sagte er. Gerd war aufgedreht und müde zugleich. Ich fragte ihn, ob er Durst hätte und reichte ihm eine Dose Albany Pilsener, die er in einem Zug herunter stürzte.
“Aaah, das ist gut”, sagte er. “Erzähl, was ist los?”.
Vor dieser Frage hatte ich mich gefürchtet, seitdem ich Hamburg verlassen hatte. Eigentlich gab es gar keinen Grund. Nur dieses laute und doch unausgesprochene Gefühl, dass es so nicht weiter geht.
“Ich war sauer”, sagte ich. “Sauer auf Dich, auf mich, auf Charly, die sich von mir getrennt hatte, weil ich ihr nicht ernsthaft genug an unserem Leben als Familie arbeitete (dabei hatten wir noch gar keine).” Jetzt wo ich einmal angefangen hatte, sprudelte es nur so aus mir heraus. Gerd hörte zu, legte dann nach einer Weile den Kopf auf die Seite und sagte: “Komm, wir gehen heute einen saufen. Gibts den irischen Pub noch, die Straße hoch nach Marstal?”
Ich guckte kurz verdattert, hatte ich doch erwartet - ja gehofft, dass Gerd meine Beweggründe kommentieren würde; mir vielleicht Verständnis signalisierte (immerhin hatte ich ihn einiges an Geld gekostet mit meiner Flucht).
“Ja, den gibts noch”, antwortete ich statt weiter zu grübeln. Saufen war Gerds Allheilmittel und ein freundschaftliches Zeichen, dass er mich vertsand; irgendwie.
Marstal war eine alte Reeder- und Hafenstadt, der man nicht mehr ansah, dass sie zu den reichsten und mächtigsten Häfen im Norden Europas gehörte vor bummelig 150 Jahren. Ich hatte mir die Geschichte Marstals in dem Bestseller Roman "Wir Ertrunkenen" von Carsten Jensen erschlossen - ein Roman wie die Buddenbrooks für Lübeck waren, nur auf moderner und auf dänisch.
Die Landmarke, die jahrzehntelang Seglern den Weg wies, zwei Kräne, die an einem Schwimmdock im Hafen standen, waren vor ein paar Jahren abgebaut worden. Ein weiteres, vielleicht das letzte Kapitel im Buch Marstals als Hafenstadt.
Geht man von der ausgebauten Marina in Richtung Stadt, passiert man stillgelegte und verlassene Schiffsmotorenwerke, sieht gamelnden Hafenanlagen beim Verschwinden zu. Es legt sich eine morbide Traurigkeit auf das eigene Gemüt, so trostlos wirken viele Ecken dieser einst stolzen Stadt.
Als wir im Irish Pub sitzen, in dem es heute tatsächlich Livemusik gibt, erzähle ich Gerd von den Fotos, die Marstal voll gepackt mit Segelschiffen zeigen. Vom Kai bis zur langen Hafenmauer, die Marstal vor allen Winden, vor allen vor denen aus dem Osten beschützt.
Wir trinken abwechselnd irisches dunkles Bier und Craft Bier aus der lokalen Biobrauerei auf AEroe. Nach einiger Zeit und einigen Gläsern stellt sich eine Harmonie ein, die ich bei Gerd sehr vermisst habe. Wir gleiten durch den Abend; springen von Geschichte zu Geschichte, lachen bei alten Anekdoten und spinnen Seemannsgarn. Eine solche Menge, dass sich nach einer Weile weitere Männer zu uns gesellen. Lennart, der örtliche Polizist (einer von zweien, die auf der Insel wohnen, die anderen kommen zu ihrer Streife mit der Fähre rüber), Erik der eine Bonbonfabrik in der Stadt hat, die leider vor einer Weile pleite ging (seitdem wohnt er quasi im Pub) und Mats, ein Student aus Kopenhagen, der den Sommer über hier jobt.
Gerd ist in seinem Element, das kann ich an dem Glühen sehen, das aus seinen Augen scheint, wenn er wieder vom HSV und München erzählt.
Nach drei Runden auf Haus verlassen wir mit gehörig Schlagseite das Pub und wanken zum Hafen runter.
“Ha-hu”, nuschelt Gerd, als wir in die Kojen geschlüpft sind. “Jute Nacht”, nuschel ich zurück. “Morgen muss ich los”, denke ich noch, und vielleicht habe ich das auch laut gesagt. Ich will alleine weiter. Dänemark im Sommer erleben …
ps vielen Dank, dass Du die erste Staffel meines fiktiven Newsletters abonniert hast. Die 2. Staffel startet nach den Ferien und wird in meinem Blog blogfrei.de veröffentlicht. Ich nehme Dein Abonnement mit rüber, wenn ich darf.
In der Zwischenzeit empfehle ich Dir meine anderen E-Books, diesen Sommer noch zum Sonderpreis …
Einen hab ich noch: gib mir Feedback zur ersten Staffel … bitte. …