Logbucheintrag vom 25. Mai. Wind 5-6 Bft. aus SW, in Böen sieben. GEFÜHLT ACHT!
Immer nur Vierter werden, zuzusehen, wie die anderen vorbei ziehen, während die eigenen Ressourcen dahinschmelzen, wie Käse in heißen Maccaroni. Das Gefühl kenne ich gut.
Ich habe kurz vor dem Abstieg die Reissleine gezogen. Bin abgehauen. Also meinem jetzt.
Dabei kann es durchaus so sein, dass ich mir den Abstieg nur einbildete. Für mich war er damals aber real.
Ich war leer gekämpft, müde davon, dass die Muskeln schmerzen, die eigentlich kreativ hüpfen sollen.
Gerd, auch Segler und mein Agent, hat mir das lange versucht schönzureden. Die Verlage wurden kleiner, die Vorschüsse auch. Am Schluss, I c h stand gefühlt auf einem Abstiegsplatz, hat er guten Rotwein bei seinem Lieblingsitaliener gebraucht, um mich überhaupt noch zur Arbeit zu bewegen. Viel Rotwein. An dem Tag, an dem ich in den Sack haute, war er beim Rotwein de la Casa angelangt.
"Ich geh jetzt. HSV!", rief ich ihm zu und stieß dabei mein Glas um, das ungeschickt gegen die halbvolle Karaffe Hauswein dongte. Ich griff nach ihr und räumte sein Glas gleich mit ab. Ungeschickt im Doppelpack, Absteiger halt.
Ich hatte es ordentlich versaut. Nach allen Regeln der Kunst. Hatte 4.000 Euro abgehoben und war abgehauen.
Das war jetzt gut drei Monate her. Seitdem hatte ich Gerd nicht mehr gesprochen. Mein schlechtes Gewissen war nicht kleiner geworden. Wie gut abgehangener Rehrücken reifte es zu einer körperlichen Unfähigkeit: ich konnte mich unmöglich bei Gerd melden. Noch nicht mal nach Hamburg fahren.
(Ja, in Albträumen fahre ich einen Hanomag-Truck und halte an, weil Gerd am Straßenrand steht und den Daumen raus hält. "Du fährst nach Hamburch, ich schwörs Dir!", schreit er dann durch die offene Tür. Dann wache ich auf. Jedesmal an dieser Stelle)
Heute habe ich nach einem solchen Traum die Segel gesetzt. Die Flucht nach Norden ausgeweitet.
Der Wind sollte mit 5 Beaufort aus Südwest wehen. In Böen kam die Nadel aber locker auf 7 Beaufort (wenn ich die Geschichte in einem halben Jahr erzähle, waren es acht. In zehn Jahren knapp 10. Seemannsgarn reift eben auch). Ich schoss 3/4 Winds über die Ostsee. Meine Arme wurden immer länger, der Druck auf dem Ruder enorm. An der imaginären Grenze zwischen Deutschland und Dänemark war die Dünung dann hoch genug, um meine Schwedin sanft hochzuheben und sie das Wellental runter surfen zu lassen.
Ich hatte Hunger. Denn ich war so unbeseelt losgegangen, dass ich vergessen hatte, mir Brot und Nüsse in Griffweite hinzulegen.
Immerhin hatte ich im Schwalbennest noch eine Flasche Bier gefunden. Von der ich Rasmus einen guten Schluck abgab.
Das Kielwasser gurgelte hinten am Heck. Ein sicheres Zeichen, dass meine Ohlson ins Surfen kam und ihrer Rumpfgeschwindigkeit den Vogel zeigte. Ich fing an zu jauchzen, als wir beide unsere von der Physik gesetzten Grenzen überwanden.
Hahaaa. Von wegen Abstieg.
Als ich bei krassem Seitenwind in Marstal anlegte, legte ich mich einfach auf ein dort schon liegendes Schiff drauf. Ich bekam knapp eine Achterleine noch über den in Luv stehenden Poller geworfen, den anderen verpasste ich. Meine Arme wollten mir einfach nicht mehr gehorchen.
Das sah nicht besonders anmutig aus. Ist mir schnurzpiepegal. Fender sind zum abfendern da. Und Einhand kann ich eben nicht überall sein.
Nach einer Weile kroch die Kraft zurück in meine Arme. Immerhin so viel, dass ich zwei, dreimal mein Weinglas heben konnte. Der Rotwein aus Chile, den ich mir im lokalen Superbrugsen als 5L Kanister gekauft hatte, beschleunigte die Erholung. Anders als in Hamburg ist Wein aus Schläuchen hier kein Sakrileg, sondern praktische Stauung. Weswegen auch gute Weine im Pappkarton zu haben sind.
Als ich beim 100 Jahre alten Hafenmeister mit der weißen Schirmmütze mein 'Havnepenge' bezahle, muss ich an Gerd denken.
Wir haben uns vor 20 Jahren in München kennengelernt. Zwei Norddeutsche, die bei einer Biergartenschlägerei von der Münchner Polizei festgenommen wurden. Gerd weil er den Streit angefangen hatte, während mein Vergehen eher unklarer Natur blieb. Ich stand nur einen kleinen Moment zu lange dabei.
Gerd hatte eine Runde Bayernfans bis aufs Blut gereizt, weil er nicht nachliess, immer wenn er an ihnen vorbei lief, laut "HSV, ihr Luschen" zu grölen.
Irgendwann landete dann ein kleiner Spuckfaden im Bier des größten Bayern an dem Tisch und das Drama nahm seinen Lauf.
Beim Vergleich der Meldeadressen wurde ich kurzerhand der Täterseite zugeschlagen und landete mit Gerd in der Ausnüchterungszelle. Mich hatte der Tag umgehauen und ich schlief langsam ein, als ich ohne Schuhe (wegen der Selbstmordgefahr) auf einer viel zu kleinen Pritsche lag. Gerd randalierte da immer noch an der Zellentür und rief immer wieder, "HSV, HSV ihr Luschen".
Diese Erinnerung breitete sich warm in mir aus. Zusammen mit der Klarheit, die nur unendliche Erschöpfung hervor bringt, liess sie mich nach meinem Handy greifen. Ich war nicht darauf gefasst, was Gerd dann sagte, als er nach dreimal Klingeln abnahm: "HSV, Du Lusche", rief er ins Telefon.
"Wo bist du? Egal wo, ich komm da hin”. …
Du liest den fiktiven Blog-Newsletter von Pit, einem Liveaboard. Er lebt auf einer 29 Fuss Segelyacht in der westlichen Ostsee.
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